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Lesetext

Hier finden Sie den Lesetext zum jeweiligen Thema. Die Texte wurden nach wissenschaftssprachlichen Standards verfasst, die darin verwendeten Literatur- oder Internetquellen finden Sie im Literaturverzeichnis. Wenn Sie Übungen zu den Lesetexten bearbeiten möchten, klicken Sie bei dem jeweiligen Thema das Leseverstehen an.

Studierfähigkeit und sprachliche Handlungsfähigkeit

Welche Voraussetzungen müssen für einen erfolgreichen Studienabschluss in Deutschland erfüllt werden? Was wird von den ausländischen Studierenden erwartet? Eine hohe Motivation und ein ausgeprägtes Interesse am Studienfach spielen im Studienprozess eine essenzielle Rolle. Außerdem wird eine sehr gute alltagssprachliche Kompetenz verlangt -- gute Sprachkenntnisse sind sowohl für den Studienerfolg als auch für das soziale Leben außerhalb der Universität ausschlaggebend. Doch die sprachlich-kommunikativen Herausforderungen im Studium sind weitaus differenzierter wie Fandrych/Rüger & Brinkschulte (2019: 4) überblicksartig darstellen:

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Abbildung 1: Komponenten sprachlicher Handlungsfähigkeit im Studium.

Eine weitere Herausforderung für ausländische Studienanfänger:innen bildet die deutsche Wissenschaftssprache, die im Studienprozess erworben werden soll. Zum einen müssen sich Studierende die Fachterminologie und die sprachlichen Besonderheiten ihres Faches aneignen, die eng mit den Fachinhalten und Forschungsmethoden im Fach zusammenhängen. Zum anderen müssen sie das Inventar der „alltäglichen Wissenschaftssprache" (Ehlich 1993) verstehen und beherrschen. Nach Ehlich (1993: 33) handelt es sich dabei um sprachliche Ausdrucksmittel (Wörter, Wortverbindungen, bestimmte grammatische und syntaktische Strukturen), die fachübergreifend, d.h. von allen wissenschaftlichen Disziplinen für das wissenschaftliche Sprechen und Schreiben verwendet werden. Diese lexikalischen Fügungen entstammen der Alltagssprache und sind über Jahrtausende im wissenschaftskommunikativen Gebrauch umfunktionalisiert worden. Dabei erfuhren sie gewisse Bedeutungserweiterungen, die den Studienanfängern aus der Alltagssprache nicht bekannt sind und erst erlernt werden müssen (vgl. Ehlich/Graefen 2001: 373). Sie sind zwar mit bestimmten wissenschaftlichen Handlungen verbunden, wie z.B. kommentieren, erklären, zusammenfassen, argumentieren, was ihren Erwerb in gewissem Maße erleichtert, können aber wenig differenziert oder durch andere ersetzt werden. Dies sei an vier Ausdrücken veranschaulicht.

Man kann einige Ausdrücke mit gleicher Handlungsfunktion im Text wie z.B. Fragen stellen und Fragen aufwerfen nahezu synonym verwenden, obwohl sich bei den Verben stellen und aufwerfen im alltäglichen Sprachgebrauch keine bedeutungsrelevanten Berührungspunkte ergeben. Der Ausdruck Fragen nachgehen kann aber nicht durch den Ausdruck Fragen folgen ersetzt werden, obwohl die Verben jemandem nachgehen und jemandem folgen in der Alltagssprache synonym verwendet werden. Diese Ausdrücke werden in der Wissenschaftssprache nicht nach ihrer potenziellen Bedeutung oder ihrer grammatischen Richtigkeit, sondern nach der sich durch den Gebrauch etablierten Typik verwendet (vgl. Steinhoff 2007: 87f.). Daraus entsteht beim Erwerb der alltäglichen Wissenschaftssprache eine große Fehlerquelle. Zum reinen Ausdruckswissen kommt das Wissen darüber hinzu, welcher Ausdruck in welchem Kontext passt. D.h. die Studierenden müssen nicht nur die typischen Ausdrücke kennen, sondern auch typische Kontexte für ihre Verwendung. Beispielsweise müssen die Studierenden den Ausdruck zusammenfassend lässt sich sagen, dass, der für die sprachliche Handlung zusammenfassen typisch ist, erstens in seiner grammatischen Form und Typik (nicht zusammenfassend lässt man sagen) beherrschen und zweitens wissen, dass der Ausdruck in der Zusammenfassung einer schriftlichen Arbeit bzw. am Ende eines Kapitels verwendet wird.

Außerdem sind auch für die Wissenschaft und für solche sprachlichen Formulierungen bestimmte Stilmittel typisch wie z.B. eine unpersönliche, objektive Darstellungsweise, bei der nicht der Autor oder die Autorin, sondern der Forschungsgegenstand im Vordergrund steht und daraus resultierende häufige Verwendung von Passiv und passivähnlichen Konstruktionen, das Bevorzugen des Nominalstils und die Vermeidung von ich sowie ironischer und poetischer Sprache (vgl. Fandrych/Rüger & Brinkschulte 2019: 5). Diese besonderen Stilmittel der alltäglichen Wissenschaftssprache lassen sich wiederum durch die Prinzipien der Wissenschaft begründen: Sachlichkeit durch unpersönlichen Stil, Genauigkeit durch Fachterminologie, Nominalisierung, typische Formulierungen und Verständlichkeit durch die Vermeidung von Ironie und bildhafter Sprache. So gehören wissenschaftliches Denken und Arbeiten und sprachliche Formulierungen funktional eng zusammen (vgl. ebd.).

Neben der Sprache ist es daher nicht weniger wichtig, die Wissenschaftstradition des Landes, d.h. dessen Lehr- und Lernkultur kennen zu lernen und zu verstehen. Denn die Wissenschaftstraditionen sind in den unterschiedlichen Ländern und Kulturen unterschiedlich. Eine Wissenschaftstradition ist das Resultat langfristiger, historisch herausgebildeter Entwicklungsprozesse in den Bereichen Wissenschaft und Forschung. Diese bestimmen wiederum die Art und Weise, wie wissenschaftlich gearbeitet wird (vgl. Schumann 2012: 35). Dazu kommen fächerspezifische Differenzen wie z.B. die für ein Fach typischen Forschungsgegenstände und Forschungsmethoden. Beides spiegelt sich im akademischen Alltag an Hochschulen wider. Das bedeutet, die Wissenschaftstraditionen und fachspezifische Unterschiede beeinflussen die Art und Weise, wie das Wissen an Hochschulen erzeugt und weitergegeben wird, in welchem Verhältnis Forschung und Lehre zueinander stehen, wie und durch welche Arbeitsformen die Studierenden zum Lernen angeleitet werden und in welchem Verhältnis sie zu Dozent:innen und zueinander stehen (vgl. ebd. 34-35).

Der deutsche Wissenschaftsstil ist in hohem Maße von dem Humboldtschen Bildungsideal1 der Einheit von Forschung und Lehre an Hochschulen geprägt. So müssen die Hochschullehrenden in der Forschung tätig sein und ihre Forschungstätigkeit und Forschungsergebnisse auch in die Seminare tragen. Zum anderen werden die Studierenden von Anfang an zur selbstständigen Wissensaneignung und zur Wissensentwicklung angeleitet. Dies kommt in unterschiedlichen Unterrichtsformaten und universitären Arbeits- und Prüfungsformen zum Ausdruck: In den Vorlesungen wird das Wissen rezipiert und in den Seminaren, Übungen und Kolloquien wird eine aktive Beteiligung der Studierenden an der Wissensgenerierung und die kritische Auseinandersetzung mit vorhandenem Wissen erwartet. In den Klausuren wird das standardisierte Wissen abgefragt und in den Hausarbeiten und weiteren individuellen Arbeiten wird die problemorientierte und produktive Wissensverarbeitung überprüft (vgl. ebd.: 38). Nicht die Lehrenden sind die zentrale Wissensquelle, sondern die Studierenden müssen in Eigeninitiative aktiv werden und den selbstständigen, analytisch-reflektierenden Umgang mit den wissenschaftlichen Diskursen (Texten, Textsorten, Kommunikationssituationen) anstreben. So werden Lehrende und Studierende zu Kommunikationspartner:innen im Bildungsprozess, was zur Veränderung der hierarchischen Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden und so zur Minimierung der Distanz führt. Für ausländische Studierende, die eine andere Bildungssozialisation durchlaufen haben und andere Lernstile und wissenschaftliche Arbeitsweisen kennen gelernt haben, kann das deutsche Hochschulsystem interkulturelle Missverständnisse und Verunsicherung hervorrufen, die sich negativ auf den Studienerfolg auswirken (vgl. Schumann 2008: 29). Daher ist es wichtig, die eigene Wissenschaftstradition der fremden gegenüberzustellen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden, um kommunikative und interkulturelle Probleme für alle Beteiligten besser verstehen zu können. Als erste Anlaufstelle bei interkulturellen Problemen im Studium gelten zahlreiche Beratungsstellen für internationale Studierende an Universitäten und Hochschulen.


  1. Wilhelm von Humboldt ist ein deutscher Gelehrter und Mitbegründer der Berliner Universität (1810), der das Konzept der Einheit von Forschung und Lehre an deutschen Universitäten etabliert hat.